Immer komplexere Therapiemöglichkeiten und eine steigende Zahl von Patientinnen und Patienten bringen Ärztinnen und Ärzte zunehmend an ihre Belastungsgrenze. Glücklicherweise hat sich der medizinische Bereich in den vergangenen Jahren enorm weiterentwickelt. Denn was früher nach Science-Fiction klang, ist heute Realität: KI nutzt Algorithmen, die Röntgenbilder auswerten, Diagnosen stellen und Therapien vorschlagen. Doch wie zuverlässig sind diese Ergebnisse aktuell? Und was sagen Ärzte dazu? Wir beleuchten die komplexen Entwicklungen, die mit der digitalen Revolution im Medizinsektor einhergehen.
Bildauswertung mit KI
Krebs ist nach wie vor die zweithäufigste Todesursache in Deutschland. Jedes Jahr erhalten rund eine halbe Million Menschen in Deutschland die Diagnose Krebs. Eine der vielversprechendsten Anwendungen von KI in der Onkologie (Krebsforschung) ist die Auswertung bildgebender Verfahren wie Röntgen- oder Kernspinaufnahmen. KI-Systeme können beispielsweise kleinste Knötchen in der Lunge automatisch identifizieren und in Sekundenschnelle Ärztinnen und Ärzten anzeigen. Auch in der Prostatakrebsdiagnostik kommt KI bereits zum Einsatz. Ein am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) entwickelter Algorithmus analysiert hier Kernspinbilder und könnte künftig helfen, weiteren Biopsien zu vermeiden. Noch ist das eine Vision, die weiterer Studien bedarf, doch die ersten Ergebnisse stimmen zuversichtlich.
Gemeinsam stark
Besonders aufschlussreich ist eine neue internationale Studie unter der Leitung des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin. Sie verglich mehr als 40.000 Diagnosen aus über 2.100 realitätsnahen klinischen Fallvignetten. Das Ergebnis: Die Kombination von menschlicher Fachkompetenz und maschineller Intelligenz führt zu den präzisesten Diagnosen. „Am besten geht es zusammen“, so das Fazit der Forschenden.
Zwar ist die Expertise der Ärzte den Maschinen in einigen Bereichen überlegen, doch sobald mehrerer KI-Modelle kombiniert wurden, hatte der Mensch kaum noch eine Chance. Sie schnitt besser ab als 85 Prozent der menschlichen Einzelpersonen. Die besten Ergebnisse erzielten jedoch hybride Teams aus Menschen und KI-Systemen. Stefan Herzog vom Max-Planck-Institut betont:
„Es geht nicht darum, den Menschen durch Maschinen zu ersetzen. Vielmehr sollten wir Künstliche Intelligenz als ergänzendes Werkzeug begreifen, das in der kollektiven Entscheidungsfindung sein volles Potenzial entfaltet.“
Krebsvorsorge mit Künstlicher Intelligenz
Nicht nur bei der Diagnose, auch bei der Früherkennung und gezielten Vorsorge kann KI wertvolle Dienste leisten. Besonders eindrucksvoll sind Ergebnisse beim Mammografie-Screening: Eine deutsche Studie zeigte, dass mithilfe von KI 18 Prozent mehr Tumore entdeckt wurden – ohne eine höhere Rate an Fehlalarmen oder überflüssigen Zusatzuntersuchungen.
Auch die Auswahl der eingeladenen Untersuchten könnte verbessert werden. Bislang entscheidet hauptsächlich das Alter darüber, wer zur Mammografie eingeladen wird. Künftig könnte KI auch Gewicht, Gewebedichte oder familiäre Vorbelastungen einbeziehen. Moritz Gerstung vom DKFZ erklärt:
„Letztlich ist es so, dass man bei der Früherkennung die Nadel im Heuhaufen finden muss. […] Und KI kann dabei helfen, diesen Haufen etwas vorzusortieren.“
Beraten, nicht ersetzen
Neben der Bilddiagnostik gewinnen auch Sprachmodelle wie ChatGPT an Bedeutung. Laut dem Heidelberger Hautarzt und KI-Forscher Titus Brinker hat bereits jeder fünfte Arzt eine Therapieentscheidung mit Hilfe von ChatGPT überprüft. Gleichzeitig warnt Brinker: „Man sollte ihnen also keinesfalls blind vertrauen, sondern die KI immer auch nach ihren Quellen fragen und die dann selbst überprüfen.“
Ein konkretes Beispiel für ein transparentes System ist der am DKFZ entwickelte „Urobot“, ein Chatbot für urologische Fragen. Er kennt alle aktuellen Leitlinien und beantwortete in einer Studie fast 90 Prozent der Fachfragen korrekt – deutlich besser als viele angehende Fachärzte. Dabei ist jede Aussage nachvollziehbar, da der Chatbot auf konkrete Passagen der Leitlinien verweist.
KI in der Patientenkommunikation
Auch jenseits der Fachberatung könnte KI den Alltag in Arztpraxen und Kliniken erleichtern. Software zur automatisierten Erstellung von Arztbriefen existiert bereits. Erste Tests zeigen, dass sich sogar Patientenfragen per E-Mail mit KI vorformulieren lassen. Die finale Kontrolle bleibt aber vorerst beim Menschen.
Langfristig sind KI-basierte Telefonassistenten denkbar – sogar mit synthetischer Stimme. Doch bevor solche Anwendungen im klinischen Alltag genutzt werden dürfen, müssen sie als Medizinprodukte zugelassen werden. Der Weg dahin ist allerdings noch lang, denn klinische Studien dauern im Schnitt zwei bis fünf Jahre.
Praxen, die auf die Unterstützung von Allround-Lösungen wie Doctolib setzen, können solche Systeme bereits nutzen. Dort erhalten Ärzte eine digitale Rezeption, inklusive KI-basiertem Telefonassistent, der ans Telefon geht und Patienten automatisch erkennt.
Doch auch in akuteren Situationen kommt KI zum Einsatz. Wie sich am Beispiel der App soulfi zeigt, kann KI als auch Ersthelfer bei mentalen und psychischen Alltagsproblemen wie Panikattacken, persönlichem oder beruflichem Stress, Liebeskummer oder Prüfungsangst dienen. Hierfür werden KI Therapeuten laut den Entwicklern kontinuierlich von spezialisierten Psychotherapeuten auf spezielle Use Cases trainiert, um bestmögliche Unterstützung zu bieten.
KI im Klinik- und Praxisalltag
Längst ist Künstliche Intelligenz nicht mehr nur ein Thema der Krebsmedizin. Wie eine gemeinsame Studie des Digitalverbands Bitkom und des Hartmannbunds zeigt, ist KI bereits in fast jeder siebten Praxis im Einsatz. 15 Prozent der Ärztinnen und Ärzte in Praxen oder medizinischen Versorgungszentren geben an, mindestens eine KI-basierte Lösung zu nutzen – sei es zur Diagnosestellung (12 %) oder zur Praxisverwaltung (8 %). In Krankenhäusern hat sich der KI-Einsatz seit 2022 sogar verdoppelt: Bei 18 Prozent der Klinikärztinnen und -ärzte kommt KI zum Einsatz, vor allem bei der Bildauswertung.
78 Prozent der befragten Ärztinnen und Ärzte sehen in Künstlicher Intelligenz eine große Chance für die Medizin. Gleichzeitig sprechen sich 76 Prozent für eine strenge Regulierung aus. Es herrscht also eine hohe Erwartungshaltung – aber auch das Bedürfnis nach Sicherheit.
Auch andere digitale Anwendungen halten vermehrt Einzug in den Praxisalltag: 25 Prozent bieten eine Videosprechstunde an, 37 Prozent setzen auf Online-Terminvergaben. In Kliniken sind zudem Robotik (26 %) und Virtual Reality (11 %) verbreitet, ebenso wie Telemedizin und digitale Patientenakten.
Revolution mit Augenmaß
KI hat das Potenzial, die Medizin tiefgreifend zu verändern und zu unterstützen. Sie kann Diagnosen präziser machen, Früherkennung verbessern, die Versorgung gerechter gestalten und medizinisches Personal entlasten. Die Medizin wird zunehmend zu einem Feld, in dem Mensch und Maschine Hand in Hand arbeiten. Nicht nur in der Krebsforschung. Auch jenseits der Onkologie schreitet die Digitalisierung im Gesundheitswesen mit hoher Zustimmung der Ärzteschaft voran. Aber nicht ohne strukturellen Hürden. Damit der Wandel gelingt, braucht es nicht nur Technik, sondern auch Vertrauen, Aufklärung und politische Weichenstellungen.
Sofern dies gelingt, könnten die nächsten großen Fortschritte in der präventiven, personalisierten Medizin liegen. Am Helmholtz-Zentrum in Heidelberg wird beispielsweise daran geforscht, mithilfe von KI individuelle Krankheitsrisiken aus klinischen Parametern und Lebensstilfaktoren zu erkennen – noch bevor erste Symptome auftreten. Damit könnten wir vor dem Ende der rein reaktiven Medizin stehen und den Beginn eines intelligenten, lernenden Gesundheitssystems erleben, das Menschen unterstützt, noch bevor sie wissen, dass sie Hilfe benötigen.
Titelbild © Twopictures
Literaturverzeichnis
Bitkom & Hartmannbund. (2025, Mai). KI in Praxis und Kliniken im Einsatz. https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/KI-in-Praxis-und-Kliniken-im-Einsatz#_
Herzog, S., et al. (2025). Human-AI collaboration in medical diagnosis improves accuracy. Proceedings of the National Academy of Sciences. https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.2426153122
MDR Wissen. (2025, Juni). Mensch und Maschine stellen gemeinsam die genauesten Diagnosen.
https://www.mdr.de/wissen/medizin-gesundheit/diagnostik-zusammenspiel-ki-und-mensch-am-effizientesten-100.html
Nature Medicine. (2024). Artificial intelligence in oncology: opportunities and challenges. https://www.nature.com/articles/s41591-024-03408-6
Statistisches Bundesamt (Destatis). (2024). Todesursachen in Deutschland. https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Todesursachen/_inhalt.html
Till, U., & Burkhart, E. (2025, Juni). KI revolutioniert die Krebsmedizin. SWR Wissen.
https://www.swr.de/leben/gesundheit/wie-ki-die-krebsmedizin-revolutionieren-koennte-100.html